Grenzstreifung DDR (#4) – Die Mauer
13/08/2011 3 Kommentare
Berlin, Mitte der 80er Jahre
Die Mauer ist ungefähr 155 km lang.
Sie reicht einmal um West-Berlin herum.
Geht oder fährt man immerzu geradeaus steht man irgendwann an der Mauer, an der Spree oder an einem Grenzübergang.
Die Mauer, das sind eigentlich zwei Mauern:
Hinterlandmauer: 2-3m hoch, Beton, Metallgitter, manchmal ehemalige Häuserwand
West-Berlin zugewandte Mauer: 3-4m hoch, Betonplatten, und auf der Krone eine Betonröhre von 50cm Umfang, an der man keinen Halt findet.
Vor der West-Berlin zugewandten Seite der Mauer ist noch das „Unterbaugebiet“, mal schmaler mal breiter – ein Stück Land, das noch zur DDR gehört. An manchen Stellen teilt die Grenze Straßen der Länge nach und verläuft auf dem Gehweg oder direkt an den Häuserfronten zu den Häusern auf der Westseite. Da ist die Mauer soweit auf DDR Territorium zurückgesetzt, dass die Menschen ihre Häuser betreten können.
Man kann also diesseits der Mauer entlanggehen und sich trotzdem in der DDR befinden.
Zwischen den beiden Mauern gibt es eine Menge Aufwand, der die Menschen an der Republikflucht hindern soll: Wachtürme mit Suchscheinwerfern, Kontaktzäune und Signaldrähte – so werden Grenzposten alarmiert bzw. Leuchtkugeln ausgelöst, Fahrzeugsperren – KFZ-Gräben und spanische Reiter, der Kontrollstreifen – geharkte Sandflächen auf denen man Fußspuren sieht, die Lichtanlage, die auf dem Todesstreifen die Nacht zum Tage macht, Patrouillen zu Land und zu Wasser, Posten, die Anweisung haben zu schießen, wenn Flüchtende auf Zuruf nicht stehenbleiben.
Betreten nur mit Dokumenten des grenzüberschreitenden Verkehrs gestattet
Dann sind da die berüchtigten Hundelaufanlagen. An manchen Stellen sind Hunde, denen man Laufleinen angelegt hat, die wiederum an einem Drahtseil befestigt sind, so dass die Hunde auf einem bestimmten Areal „frei“ herumlaufen können.
Es gibt die wildesten Gerüchte über diese Hunde. Das seien bösartige Bestien, die alles anfallen sollen, was sich bewegt und die, um sie noch aggressiver zu machen knapp im Futter gehalten werden.
Nach dem Mauerfall wurden viele der Hunde über den Tierschutzverein an Tierfreunde vermittelt. Die Hunde waren gesund, gut genährt und überwiegend freundlich. In den Laufanlagen, in denen manche der Tiere nur noch neurotisch im Kreis herumliefen, standen wohl viele nervlich dermaßen unter Dampf, dass sie beim kleinsten Geräusch losbellten.
[Es gab 1994 einen guten Titel-Artikel im Spiegel, der auch im Online Archiv zu finden ist. Heft Nr. 6]
Die Flächensperren, die man in West-Berlin „Stalinrasen“ nennt, mit langen Dornen besetzte Metallgitter, die dort wo Häuser nahe der Mauer standen und an schwer einsehbaren Stellen ausgelegt wurden, hat man Anfang der 80er Jahre entfernt. Obwohl sie zwischendurch immer wieder einmal verwendet worden sein sollen – zum Beispiel an der Versöhnungskirche bevor diese gesprengt wurde, sagt man mir.
Von den Stalinrasen bekomme ich Alpträume. Ich weiß [zu der Zeit] nicht mal wie die Dinger aussehen, aber als M. davon erzählt, von den Schreien Flüchtender, die auf so eine Sperre gefallen sind, ist das schon mehr, als ich je wissen wollte. Ich halte mir die Ohren zu und rufe „Hör auf, ich will das nicht hören. Das ist grauenhaft!“.
M. zuckt die Achseln und sieht mich so ein bisschen mitleidig-verächtlich an.
Ich kann nichts dafür. Ich bin ziemlich empathisch und bei solchen Schilderungen fange ich an zu weinen. Und ich weiß auch, dass ich dieses Wissen nie wieder loswerde. Es ist abgelegt unter „Dinge, die Menschen Menschen antun“ und es kann mich jederzeit und unvermittelt wieder heimsuchen.
Mittlerweile sind die Dinger Museumsexponate.
http://www.ipernity.com/doc/26252/10353274
Minenfelder und Selbstschussanlagen (also Splitterminen, die durch Drahtberührung ausgelöst werden) gab es übrigens nie an der Grenze zu Berlin. Es wäre für die DDR ein PR-Desaster gewesen, wenn da ein Flüchtiger im Angesicht der Westmedien auf eine Mine getreten oder in den Geschosshagel einer SM70 geraten wäre.
Die Bezeichnung „Mauer“ hat übrigens Walter Ulbricht zuerst benutzt, als er am 15.6.1961 darauf hinwies, dass niemand die Absicht habe, eine solche zu errichten.
Wer sich den, in der DDR offiziell verwendeten Euphemismus „antifaschistischer Schutzwall“ hat einfallen lassen, ist mir nicht bekannt.
Achtung Sektorengrenze!
Die West-Berlin zugewandte Seite der Mauer ist eine Riesenmal- und -schreibfläche.
Man hinterlässt seinen Namen („Karl was here“, „Steffi was here“) gerne auch mit Datum, dumme Sprüche ( „Ich geh kaputt, gehst du mit?“ „Legalize Erdbeereis“ „Erich komm raus!“), Liebesgeständnisse, Beschimpfungen, Kommentare zur aktuellen Politik, Kommentare zur Mauer. Mehr oder weniger talentierte Künstler verzieren die Mauer mit Strichmännchen, Comicfiguren, kunstvollen Bildern und Kunstprojekten.
Zu den beliebtesten Motiven, die da an die Betonwand gemalt oder gesprayt werden gehören – neben Kilroy – Leitern, Türen, Löcher
http://www.graffiti.org/berlin/berlin_1.html
„Sie verlassen jetzt West-Berlin“ steht auf dem Schild vor der Mauer vor dem Brandenburger Tor. Jemand hat dann irgendwann die völlig berechtigte Frage „Wie denn?“ drauf geschrieben.
Hier scheint „Wie denn?“ zu „Wotan“ mutiert zu sein:
[Auf dem verlinkten zeitgenössischen Foto ist übrigens auch ein Kilroy zu sehen (für Blindfische: links auf der Mauer)]
Die Hinterlandmauer ist nackt.
Filme Souvenirs Getränke
Die Mauer ist eine tolle Film- und Fotokulisse.
Touristen, Politiker, Stars und Sternchen lassen sich vor der Mauer fotografieren
Filme werden an der Mauer gedreht. Filme über die Mauer werden gedreht.
Musiker lassen sich an der Mauer fotografieren, drehen dort Filme und Musikvideos und veranstalten Konzerte.
Mein Lieblings-Mauer-Musik-Video (eigentlich eine Fernsehaufnahme im Rahmen vom Rockpalast) ist das „Naturkatastrophenkonzert“ von „Die tödliche Doris“.
http://www.youtube.com/watch?v=t4JZrtYXW9E
Der Clip-Untertext stimmt übrigens nur halb: Nur das linke Haus (an der Adalbertstrasse) steht in Ost-Berlin. Die Kirche, rechts im Bild, steht im Westen.
Wenn man länger in Berlin ist, wird die Mauer zum Alltag.
Oft sieht man sie nicht mehr, nimmt sie nur noch wahr, so wie man eine eine Hauswand, eine Bushaltestelle oder eine Laterne wahrnimmt. Man denkt nicht jedesmal „Oh, die Mauer!“, man registriert sie nur, halb unbewusst und läuft immer an der Wand lang.
Menschen leben mit der Mauer und neben der Mauer.
Es gibt Hinterhöfe, Gärten, Schrebergärten, Spazierwege und neben der Mauer.
Im Schatten der Mauer werden Kartoffeln gepflanzt, Rosen geschnitten, Teppiche ausgeklopft, wird Kaffeeklatsch gehalten, Wäsche aufgehängt, Radio gehört.
Im Schatten der Mauer steht ein Kinderplanschbecken, ein Grill mit Würstchen drauf, ein Kasten Bier, eine Gießkanne, ein Kirschbaum.
Im Schatten der Mauer spielen Kinder. Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?, Flohhüpfen, Fußball: Wenn der Ball über’s Tor hinausfliegt – Pech gehabt.
Hunde pinkeln an die Mauer. Männer pinkeln an die Mauer. Leute werfen nachts heimlich Sperrmüll an die Mauer. Kinder werfen Knallfrösche über die Mauer. Jugendliche werfen Flaschen an der Mauer kaputt.
Eine Busladung Touristen ergießt sich an einer markanten Stelle, an der mindestens eine Besucherplattform, oft auch ein Wurstmaxe, ein Eiswagen und/oder ein Andenkenstand sind. Sie machen Fotos. Sie kritzeln irgendwas auf den Beton. Sie werfen Getränkedosen, Bonbons, Zigarettenschachteln, Pornohefte über die Mauer.
Eine junge Frau klettert auf eine Besucherplattform, ruft die Wachposten, winkt ihnen zu, zieht ihr T-Shirt hoch und zeigt den Posten ihre Brüste.
Ein Mann steht an der Ecke Lindenstraße (heute Axel-Springer-Straße) und Kommandantenstraße mit dem Gesicht zur Mauer und dreht sich, als eine Freundin und ich vorbeigehen, zu uns um, um uns seinen Schwanz zu zeigen. „Bleibt ei’m ooch nüscht erspart,“ kommentiert S. trocken.
Achtung Lebensgefahr! Wasserstraße gehört zum Ostsektor von Berlin
Am Gröbenufer ist es in der Abenddämmerung sehr schön, wenn man die Hinterlandmauer auf der anderen Seite und die Patrouillenboote übersieht und, wenn man vergisst, dass hier in den Siebziger Jahren mehrere Kinder ertrunken sind. Die Rettungskräfte konnten sie nicht aus dem Wasser holen, weil die Spree an dieser Stelle Hoheitsgebiet der DDR ist.
Später hat man dann so gestreifte Notrufsäulen am Spreeufer aufgestellt, mit denen West-Berliner Rettungskräfte alarmiert werden konnten und gleichzeitig die Patrouillenboote durch eine Warnleuchte informiert wurden.
Immer wieder irgendwo in Berlin Kreuze und Blumen.
Am bekanntesten sind die Kreuze in der Bernauer Straße, in der Zimmerstraße, am Reichstag. Immer wieder Stellen an der Mauer, an der Spree wo Menschen Blumen niederlegen.
N. wohnt in Kreuzberg
An einem lauen Sommerabend fahren wir ihn das erste Mal besuchen. Ich lehne am offenen Fenster, schaue beiläufig, wie man das manchmal so macht, hinaus und denke „Was ist das denn für ein hässlicher Parkplatz?“
Dann sehe ich den Wachturm und mir rutscht ein „Ach du Scheiße!“ raus.
Da ich mit Besucherplattformen so meine Schwierigkeiten habe, kenne ich den Todesstreifen nur von Fotos. Die unerwartete Aussicht aus N.’s Fenster erschreckt mich und ich flüchte schnell ins Innere der Wohnung.
N., der meinem Blick gefolgt ist, sagt: „Ach, das.“
Für ihn ist das durch Gewöhnung kein besonderer Anblick. Seine Probleme mit der Mauer sind praktischer Natur. Eine der Lampen scheint in sein Zimmer und er ist gezwungen nachts einen Vorhang vorzuziehen, weil er sonst nicht schlafen kann, obwohl er Vorhänge eigentlich nicht mag.
Fin du Secteur Français
J., der jwd in Neukölln wohnt, ist etwas blass um die Nase und erzählt, er sei früh morgens von Lärm und Hektik wach geworden, von Explosionen. Dann haben Anwohner erzählt, jemand sei wohl im Grenzstreifen erschossen worden.
Ich – und vermutlich nicht nur ich – denke, er hätte sich das als Ausrede für sein Zuspätkommen ausgedacht. Das alles scheint eine Spur zu dick aufgetragen. Mittags hören wir es dann im Radio.
Bis zu J.’s Geschichte war ich ahnungslos unterwegs – ich kann einen Schuss nicht von einer Fehlzündung oder von einem verfrühten Chinaböller unterscheiden.
Nun machen mich auch Fehlzündungen und Chinaböller nervös, wenn ich in Hörweite der Mauer bin.
Halt Hier Grenze!
Ein anderes Mal in N.’s Wohnung in Kreuzberg.
Ich sitze am Küchentisch auf der Eckbank am Fenster. N. macht Tee, knipst das Licht in der Küche an, weil es dämmert. Drüben, auf der anderen Seite der Grenze gehen auch nach und nach Lichter an.
N.’s Wohnung ist einer der Orte in Berlin an denen mir die Existenz dieser Grenze deutlich bewusst ist.
Gleichzeitig ist es ein Ort, wo ich die Nähe der anderen Seite schmerzlich wahrnehme, gerade in Momenten wie diesen. Blaue Stunde dies- und jenseits der Mauer.
Wäre das nicht der Grenzstreifen sondern wirklich nur ein hässlicher Parkplatz, ein Hinterhof, dann wäre das gar keine Entfernung.
Man würde sich kennen, sich beim Bäcker, an der Haltestelle, in der Kneipe treffen. Man würde die Leute aus den Häusern gegenüber kennen. Nette Leute, doofe Leute und die Sorte Leute, denen man am liebsten eine scheuern würde.
Tratschtanten, die den neusten Klatsch austauschen, Besoffene, die sich von Laterne zu Laterne nach Hause hangeln, freche Gören, die an den Türen klingeln und dann abhauen, Rentner, die auf ihrer mit Kissen gepolsterten Fensterbank lehnen und das Treiben auf der Straße beobachten – Nachbarschaft halt.
„Du hast dummerweise die Politik außer Acht gelassen,“ sagt die Peitschenlampe vor N.’s Fenster und schlägt mir die Sterne in die Augen.
Vy vyezzhaete iz amerikanskogo sektora
Ja, die Lampen – Nachts ist der Todesstreifen wunderschön anzusehen, zumindest, wenn man ein wenig auf Distanz geht.
Die Vogelperspektive ist noch nicht so ganz das Gelbe – da könnte man den Grenzstreifen auch für eine Straße halten.
Aber überall, wo man ein längeres Stück Mauer und Beleuchtung erblicken kann, sehen diese gleichmäßig aufgereihten Lampen aus wie Perlen aus Licht.
Wenn man durch die Stadt läuft, sieht man immer wieder zwischen Häuserreihen ein märchenhaftes Gleißen.
P. fragt, nach einem Stadtbummel, als sie dieses Schimmern sieht: „Oh, welches Bauwerk wird denn dahinten so schön angestrahlt?“
„Das ist der Todesstreifen.“ antworte ich zerstreut. Dann merke ich, dass ich die Unterhaltung abgewürgt habe.
Aber wie soll man auf so eine Frage wahrheitsgemäß antworten, ohne die Stimmung zu verderben?